Schneewittchen!! Vancouver – Victoria – Vancouver

Auch wenn die Spedition auf vielfältige Weise versucht, mir das Leben schwer zu machen, schaffe ich es letztlich doch, Schneewittchen wach zu küssen. Jetzt kann ich wieder Fahrt aufnehmen. Da mein Bruder Thomas mich ein paar Tage später für zwei Wochen begleiten wird, werde ich mal die Gegend erkunden.

Das Wachküssen erstreckt sich über drei Tage. Wobei es am langwierigsten ist, das Geld für die Kosten in bar aufzutreiben. Es ist erstens viel und zweitens muss ich ausreichend Geldautomaten finden, da jeder pro Tag und Kreditkarte nur eine gewisse Summe auszahlt. Es ist ja nicht so, dass die Spedition nicht einen Partner in Deutschland hätte, auf dessen Konto ich sehr einfach das Geld überweisen könnte. Sie wollen einfach nicht, obwohl sie es selbst anfangs vorschlugen. So läuft es mehrere Male: Etwas anbieten und wenn ich das Angebot auch wirklich annehmen möchte, wird es zurückgezogen. Ich brauch auch nicht zu erwähnen, dass die Verdopplung der Transportkosten laut der Spedition ganz allein mein Fehler sei. Ich hätte die Arbeiter zwingen müssen, ihren Job richtig zu machen und ich hätte bei der Auftragserteilung angeben sollen, dass die Box über 100 kg wiegen soll. Wer hier seinen Job verfehlt hat?
Egal. Auf dem Parkplatz am Flughafen Vancouver schraube ich meine Maschine zusammen. Wegfahren klappt aber nicht, da ja der Tank leer ist. Die nächste Tankstelle ist 1 km entfernt. Mit einer leeren Wasserflasche wandere ich zuversichtlich hin. Nein. Laut Gesetz ist es verboten, Benzin in nicht zertifizierte Gefäße abzufüllen. Soso. Jetzt stellt Euch nicht so an. Das erste Mal, dass ich es nicht gut finde, wenn an der Zapfsäule immer eine Servicekraft steht. Ok. Könnt ihr mir einen Kanister leihen? Haben keinen. Tankstelle!? Wir VERKAUFEN Kanister. Schon, aber zu diesem Preis?? Ich geh zurück und frage in der Lagerhalle nach und bekomme dort einen Kanister geliehen. Ok, erledigt.
Nächster Punkt: Ich brauche eine Versicherung für die Maschine. Der Leiter der Spedition in Vancouver schickt mich zu einem Familienmitglied oder Freundin, die Versicherungsvertreterin ist. Gutgläubig laufe ich dort hin. Es gibt Menschen, die es schaffen, mehr Probleme zu schaffen, ohne auch nur eines zu lösen. Sie braucht meinen Reisepass, meinen Führerschein, Fahrzeugpapiere und die Einfuhrpapiere. Soweit ok. Sie hat letztlich keine Ahnung, hat sowas noch nie gemacht und telefoniert wild rum. Ich verstehe kein Wort, da sie chinesisch spricht. Aber dann überrascht sie mich:
Ich muss eine Inspektion durchführen lassen
Nein
Doch. Aber das allein hilft nichts. Ich muss meine Maschine hier registrieren lassen, denn eine Inspektion ist nur bei hier registrierten Maschinen möglich.
Ich wiederhole mich: Nein
Doch. Aber da nur Leute, die hier wohnhaft sind, Fahrzeuge anmelden dürfen, muss auch ich mich hier anmelden.
Ich wiederhole mich nur ungern: Nein
Doch. Aber in meinem Reisepass ist ja nur eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung drin. Ich brauch ein anderes Visum. Das muss ich beantragen.
Lies es von meinen Lippen: Nein
Doch. Aber ich hab ja noch gut Zeit.
??
Die Maschine war ja noch nicht in Quarantäne, oder? Sie will mal eben beim Zoll anrufen, um das zu initiieren.
Woah! Gute Frau! Ich vergesse gleich meine guten Manieren. Was an „Nein“ verstehst Du nicht?
Ich schnapp mir meine Dokumente und verschwinde. Das hätte mir noch gefehlt. Sie plappert noch was, dass sie und ihre Familie das auch machen musste. Mag sein. Meine zierliche Nase lässt gewiss auch die Vermutung aufkommen, aber ich bin nicht aus China!
Nach weiterem Hin und her gehe ich zur Versicherungszentrale. Und der ganze Zauber dauert keine viertel Stunde und ich habe eine passende Versicherung in der Hand. Ohne Inspektion. Ohne Anmeldung. Ohne was auch immer.
Aber durch das lange Wachküssen habe ich gut Gelegenheit, mir Vancouver anzusehen. So manche kleine nette Entdeckung hat die Stadt schon zu bieten.
Ein Friseurladen nur für Kinder:
Hier bekommt man, was man kauft (ok, mit Doppel-R):
Tja. Neue Geschäftsidee?
Aber ich will endlich wieder ausreiten. Ich entscheide mich für Vancouver Island. Mit der Fähre übersetzen und am ersten Campingplatz Zelt aufstellen. Am nächsten Morgen zu einem Diner, bei dem ich sofort angesprochen werde. Es ist der Nationaltrainer der kanadischen Kunstsprungmannschaft. Wir unterhalten uns gut und lang. Aber ich wollte mir doch was anschauen. Also weiter. Kaum bin ich wieder draußen bei meiner Maschine, geht die Tür des Diners wieder auf und ein Mann ruft mir zu, ich MUSS mich unbedingt mit ihm unterhalten. Er, Marco, wirkt richtig nett, also gehe ich wieder rein. Marco stammt aus Kroatien und flüchtete vor 40 Jahren aus dem damaligen Jugoslawien nach Kanada. Er lädt mich zu sich nach Hause ein, um dort zu übernachten. Jo. Bin dabei. Zuvor sehe ich mir Victoria an und werde die nächsten zwei Tage eine große Runde zurück nach Vancouver machen.
Währenddessen werde ich oft angesprochen werden. Manchmal habe ich allerdings den Eindruck, dass ich angesprochen werde, damit diejenigen ihre eigene Geschichte erzählen können. Oft einfach nur nett, ohne dass es groß hier ausgeführt werden soll. Manchmal ein wenig mehr, ohne „weltbewegend“ zu sein. Letzteres auch bei Marco. Er flüchtete also nach Kanada, um dort seine spätere Frau kennen zu lernen. Jo. Normal. Sie ist aber aus seinem Nachbardorf und sie hatten sich zuvor nie gesehen. Schon witzig. 
Oder Chris, so Anfang 30, der sich erinnert, dass er vor Längerem mit einer ähnlichen Maschine für ein Jahr durch Südamerika reiste. Er meint, er soll eigentlich mal wieder runter, um nachzusehen, ob seine Maschine noch da steht, wo er sie hingestellt hatte. Seine Mutter scheint just schier begeistert zu sein, da sie damals tausend Tode gestorben sei.
Oder eine Frau, deren Mutter und Vater getrennt voneinander als Jugendliche in den 1930er Jahren aus Deutschland flüchteten. Knapp 10 Jahre später lernen sie sich in Übersee kennen und lieben und stellen erst nach gewisser Zeit fest, dass sie Nachbarskinder waren und zusammen jeden Nachmittag spielten. 
Oder ein Seemann, der alleine mit seinem Segelboot von Vancouver Island die Küste entlang bis Panama, dann nach Hawaii und wieder zurück nach Vancouver Island gesegelt ist. Ach, naja…das wäre schon ganz nett gewesen, aber er kann daran gar nicht denken. Er ist zu traurig. Wieso? Ach, seine Katze wurde vor wenigen Tagen von Bord seines Bootes von einem Adler gefangen…und die hat er so geliebt.
 
Oder der Kapitän einer Fähre, der mich spontan zum Essen einlädt. Die riesige Fähre hat nur zwei Passagiere: Einen Autofahrer und mich. Verlassen steht meine Maschine am Deck. Der Kapitän spricht mich an, ob ich der Verrückte sei, der durch Russland ist. Ja, kein Zweifel! 🙂 Ich erzähl meine Erlebnisse. Und dann er. Er stammt eigentlich aus der Ukraine und erzählt, wie er mit seiner Familie nach Israel floh, da es gefährlich für sie wurde. In Israel angekommen, stellten sie fest, dass es auch nicht besser wurde und deshalb nach Kanada weiterzogen. Er will wissen, was ich von der Ukraine halte. Ich bin diplomatisch. Er schaut mich an und sagt, er ist geflohen: Ich darf ruhig ehrlich sein. Diplomatie dahin! Und ich zog vom Leder. Er lacht und meint nur: Ja! Das ist mein Vaterland! Willkommen in Kanada! Willkommen in meiner Heimat!
Die Geschichte, inwieweit sie auch immer wahr sein mag, die mich am meisten berührte, hörte ich morgends bei einer Tankstelle. Ich bin auf dem Weg zu einer von drei Fähren, die ich für meinen Rückweg benötige. Sehr schöne Route. Der Tank zeigt schon lange Reserve an, also muss ich tanken, auch wenn ich nicht zu viel Zeit habe. Naja, und ein heißer Kaffee sollte auch drin sein, denn die Nacht, die ich unter einem Kajak verbracht hatte, war recht kühl.
Ich tanke und stelle meine Maschine mit dem Heck zum Kassierraum gerichtet hin, damit ich schnell starten kann. Schnell nen Kaffee geschnappt und neben einen älteren Mann hingesetzt, der leicht verträumt auf meine Maschine schaut. Die Erinnerungstafel mit den Aufklebern der besuchten Länder hat er genau im Blick. Er spricht mich an, ob ich wirklich auch in Ungarn war. Ja. Da war ich. Er nickt. Dann meint er, dass er auch dort war…dass er sogar aus Ungarn stammt. Er kann sich aber nicht mehr erinnern. 1956 floh seine Familie mit ihm nach London. Da war er drei Jahre alt. Dort angekommen, ging sein Vater mit ihm und seinem Bruder nach Kanada. Seine Mutter blieb mit den zwei ältesten Brüdern in London. In Kanada angekommen, ist sein Vater mit den beiden Jungs überfordert, weswegen sie bald in ein Waisenhaus kommen und dort die meiste Zeit aufwachsen. Da es keine Bilder gab und der Vater jahrelang nichts erzählt, erfuhr er erst kurz vor dem Tod seines Vaters, dass er noch zwei weitere Brüder hat und eine Mutter, die er für tot glaubte. Das Rote Kreuz hat nach drei Jahren Recherche den Kontakt herstellen können. Das war vor fünf Jahren. Seine Mutter lebte noch und seine beiden Brüder sind Professoren in England, während er nur eine einfache Schulbildung erhielt. Gesehen hat er die drei jedoch noch nicht. Er schämt sich ein wenig für seine einfachen Verhältnisse. Ein paar Minuten sitzen wir schweigend nebeneinander. Ich meine dann zu ihm, mit einer Kopfbewegung zu meinem Weltreiseerinnerungsschild: Die Welt ist groß. Es ist gut zu wissen, dass es jemanden da draußen gibt, zu dem man gehört. Er lächelt, nickt und meint, dass er ja mal wieder einem seiner Brüder schreiben könnte. So verabschieden wir uns. Ich werde letztlich meine Fähre um vier Minuten verpassen und zwei Stunden auf die Nächste warten. Das war es mir wert.

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