22. Etappe: Japan – Das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten: Hakodate – Tokio

Wenn ich mit einem Wort Japan bzw. die Japaner beschreiben soll, nehme ich zweifelsfrei: anders.

Manchmal hat man den Eindruck, sie nehmen das Leben nicht so ernst. Wie sonst kann man erklären, dass sie Baustellen mit Plastiktieren absperren. Seien es Krokodile, Frösche, Katzen. (Das Bild zeigt eine aufgemalte Version. Die Plastikfiguren schaffte ich nicht, zu fotografieren. War einfach nicht möglich an den Straßenbaustellen).

Gerne sind diese kindlich gestalteten Figuren noch mit einem Schriftzug versehen: „Sorry“. Einfach nur klasse. Kein „Eltern haften für ihre Kinder“.
Ich war zwar nicht dort, aber ich kann mir gut vorstellen, dass das AKW in Fukushima ebenfalls mit diesen außergewöhnlichen Figuren inklusive „Sorry“ abgesperrt ist.
Lange hatte ich mir überlegt, ob ich beim Katastrophengebiet (ohne Fukushima) vorbei schauen soll. Sicherlich wäre es interessant. Ich bin aber kein Katastrophentourist und will die Betroffenen nicht durch neugierige Blicke zusätzlich stören. Letztlich kam ich dann doch dorthin. Extrinsisch motiviert. Ich erhielt die Möglichkeit ein neues Federbein für mein Motorrad zu bekommen und das müsste ich in Ishonomaki direkt im Tsunami-Gebiet abholen. Nicht irgendein Federbein, nein. DAS Federbein schlechthin für meine Maschine (das mit der gelben Feder). Praktisch neu (max. 1000 km auf sanftesten Asphaltstraßen) und zu nem wirklich guten Preis. Da kann ich nicht Nein sagen. Also dort hin. Zuvor zentral durch den Norden der Hauptinsel, was fantastisch ist. Unglaublich schön.

Zwar jede Menge Wälder, die ich in Sibirien mehr als genug hatte, aber diese sind anders. Tiefgrün, wild und mit kurvenreichen Straßen durchzogen. Da kommt keine Langeweile auf. Auch nachts nicht. War in einem Onsen. Natürliche heiße Quellen, die es überall gibt und knapp 5 € Eintritt kosten. Dort gibt es auch Duschen. Die kann ich gut gebrauchen. Der Betreiber des kleinen Bads, was ich aufsuche, spricht perfekt Englisch und gibt mir noch ein paar Tipps für unterwegs. Sehr nett. Als ich gehen will, sagt er den verhängnisvollen Satz: „Vorsicht vor den Bären!“ Erstmal denk ich mir nichts dabei. Aber als ich nachts im Wald campe, merke ich, dass ich nicht wirklich zur Ruhe komm. Jedes Geräusch wird genau analysiert, jeder Räusperer eines Regenwurms wird zum Fauchen, jeder Furz einer Waldameise wird zum knurrenden Magen eines japanischen Waldbärs. „War das ein Bär?“ Höchstens mal eine Beere gewesen. Egal, die Nacht ist gelaufen. Also morgens um 6:00 h los, knapp drei Stunden nach Sonnenaufgang und die Landschaft und die Straßen genießen.

Und dann war ich im Katastrophengebiet. Beeindruckend. Beängstigend. Obwohl die Aufräumarbeiten sehr weit fortgeschritten sind, kann man noch die Ausmaße der Naturgewalt erahnen. Riesige Schutt- und Schrotthaufen und weite Felder, an denen vormals Häuser standen, von denen lediglich die Fundamente übrig geblieben sind. Einige Familien sind zu sehen, die zielgerichtet durch den Fundamentenwald gehen und dann an einer bestimmten Stelle inne halten. Es wird sehr still und andächtig getrauert. Doch das Leben wird auch hier weiter gehen, denn es wird groß gebaut. Insbesondere die Küstenstraße ist nahezu lückenlos wieder befahrbar. Zum großen Teil wurde neben der originalen Strecke einfach eine neue Fahrbahn gezogen. Somit sieht man auch hier, was der Tsunami angerichtet hat.

Mit einer unglaublichen Ruhe wird aufgeräumt, aufgebaut, Dämme verstärkt … für den nächsten Tsunami. Die Absperrtierchen stehen auch schon bereit.
Das Fahrwerk hole ich ab und will es an einer Tankstelle einbauen, wenn die Nacht eingebrochen ist. Fahren solange die Sonne scheint. Ist ja nicht lang. Und dann zügig arbeiten, denn die meisten Tankstellen machen um 20:00h zu. Schon witzig, denn Supermärkte haben meist bis Mitternacht oder gar rund um die Uhr offen. Ich frage nach Werkzeug, da ich ja seit Irkutsk darin schlecht ausgestattet bin. Kein Problem, ich darf alles verwenden. Drei Mechaniker schauen mir interessiert zu. So ein Motorrad haben sie noch nicht gesehen. Motorräder gibt es hier wie Sand am Meer, aber eine BMW? Alles wird bestaunt, angefasst und ausprobiert. Ok, jetzt muss ich Platz machen. Sie wollen selbst mal an der Maschine schrauben. Macht sich bestimmt toll im Mechanikerlebenslauf. Eigentlich brauche ich keine Hilfe, denn das Federbein zu wechseln, ist keine große Sache. Aber warum nicht. Dann kommt ein Mann im Anzug, der etwas mehr Englisch spricht. Ich nenn ihn nur Ishi, da ich den vollen Namen nicht unfallfrei aussprechen kann. Die Jungs wollen umgerechnet 50 €, übersetzt er. Ne, so war das nicht gedacht. Das hätte ich ja selbst hinbekommen. Letztlich muss ich auch nichts zahlen, war wohl ein Scherz. Dann mache ich wohl einen Scherz: Ich sage, ich möchte tags drauf nach Tokio. Alle lachen. Ok, den muss ich mir merken. Der kommt gut an. Es werden Freunde angerufen und davon berichtet. Deren Gelächter kann ich trotz gehörigem Abstand noch hören. Super, jetzt habt ihr mich verunsichert. Zum Schluss werde ich noch zum Essen eingeladen. Ich erzähle wo ich überall auf meiner Reise schon war. Als ich dann das Tsunami-Gebiet erwähne, soll ich mehr erzählen. Das mache ich auch. Ishi meint dann nur, dass er einen sehr guten Freund dort verloren hat, aber das gehört dazu in solch einem Land zu leben. Alles wäre in Ordnung und … er lächelt. Ich kann das nicht glauben, er scheinbar auch nicht und wischt den Ansatz einer Träne schnell weg. Wir verabschieden uns lang mit zahlreichen Geschenken und weiter geht’s in die Berge. An einem Rastplatz übernachte ich, da das in Japan problemlos geht, sicher ist und man seine Ruhe hat. Insbesondere vor Bären.

Je näher ich nach Tokio komme, desto langsamer komme ich voran. Immer mehr Verkehr, immer weniger Überholmöglichkeiten. Naja, offiziell eigentlich nicht, aber ich kann mich nicht an diese Regeln halten. 60% der Strecke Überholverbot, 30% striktes Überholverbot. Und dann noch die Geschwindigkeitsbeschränkungen: 40 in Ortschaften und eigentlich auch außerhalb, wenn irgendwo ne Kurve ist. Ansonsten 50. Diese werden auch mal aufgehoben, aber ich hab keine Ahnung wieviel ich dann fahren darf. Zwar bin ich seit Wakkanai und gezahlten 200 € Mitglied des japanischen Automobilclubs, aber Karten oder Infos zum Fahren in Japan erhalte ich nicht.
Ich fahr dann halt nach Gefühl!
Polizei womöglich in der Nähe: 50.
Polizei womöglich nicht in der Nähe: mehr.
🙂
Die japanischen Autofahrer halten sich aber im Großen und Ganzen daran. Auch die ewigen Autoschlangen in den Städten erdulden sie mit einer unglaublichen Ruhe. Wenn einer die Straße blockiert, dann wird das wohl nicht als Zeitverlust verstanden, sondern als eine Möglichkeit, ein weiteres Level von „Super Mario – Earthquake in Tokyo“ zu spielen. Oder „Schiffe versenken“?! 😉 In nahezu jedem Auto gibt es ein Navi mit einem überdimensionierten Bildschirm und irgendwelchen Spielen drauf. Ich hoffe sie spielen nur, wenn sie an einer roten Ampel warten, ich glaube aber nicht, so wie sie fahren.
Ich schaffe es doch an einem Tag zur Hauptstadt! Ha! 🙂 War aber kein Geschenk. 16 Stunden Fahrt mit einer Pause. Allein zwei Stunden für die letzten 50 km.
Nach Tokio zu kommen ist gar nicht so einfach, denn es ist eigentlich nie ausgeschildert. Als ich beim Infostand eines Rastplatzes knapp 80 km vor Tokio nachfrage, braucht es drei Angestellte, zwei Computer und 30 Minuten, um mir eine Antwort zu geben. Die Antwort könnte, ähnlich eines bekannten Witzes, über Antworten des Generalstabs sein: Sehr exakt und zu nichts zu gebrauchen. Damit habe ich den Beweis. Jeder kennt doch die Schockerfilme mit Godzilla oder anderen verfolgten Monstern, die in Tokio ihr Unwesen treiben? Alles Lüge! Kann gar nicht sein. Diese armen Biester haben keine Chance ohne Navi in die Stadt zu kommen. Viel eher landen sie vollkommen desillusioniert und verloren irgendwo auf dem Lande bei einem Reisfeld, wo sie von einem Bauern dazu verdonnert werden, Reiskörner zu zählen.
Zurück nach Tokio. Einmal den richtigen Strudel gefunden, wird man dann letztlich doch in die Stadt gespült. Tokio? Einfach nur krass. Ich fahr durch die Nacht unterhalb der metallisch spiegelnden Fahrbahnen des Expressways (japanische Autobahn…SEHR teuer) und wundere mich.

Irgendwas ist hier GANZ anders. Es dauert etwas, als es mit klar wird. Trotz dichtestem Verkehr: Niemand hupt. Ich fahre über eine Stunde in der Stadt, bis ich es das erste Mal höre. Der Fahrer entschuldigt sich sogleich bei allen benachbarten Fahrern. Klar. Dafür ist die Hupe ja da.
In einem Kapselhotel komme ich unter. Gar nicht so schlimm. Es hat Vorteile, nicht zu groß gewachsen zu sein.

Tags drauf erhalte ich einen tollen Überraschungsbesuch. Japan lässt sich zu zweit einfach besser erkunden.

2 Antworten auf „22. Etappe: Japan – Das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten: Hakodate – Tokio“

  1. Cooler Zwischenbericht, lieber Christian, aber wer wird denn da Angst vor den süßen, japanischen Waldbeeren haben? Wie soll das denn in Canada werden, wenn ein ausgewachsener Grizzlybär vor uns steht? Ich dachte, Du beschützt mich dann?!
    Naja, sehen wir ja dann..
    Warst Du auch im „Nutty Bavarian“? Es klingt so als müsste man DA auf jeden Fall gewesen sein, sonst hat man doch was verpasst in Tokyo 😉
    Viel Spaß noch im Land, wo das Lächeln zumindest IN Dein Motorrad zurückgekehrt ist 🙂

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